“Reisen lernen”: Fünf gute Gründe gar nicht erst loszufahren

In meiner Serie “Reisen lernen” dreht sich alles um das Thema Reisen mit Angstörung: Tipps für die Vorbereitung und fürs Unterwegssein, geeignete Reisearten und Destinationen und, ehrlicherweise, auch die Gründe, die Menschen mit Angststörung vom Reisen abhalten können. Doch gegen die lässt sich zum Glück ja auch Einiges unternehmen.

Um Expert:in für Ausreden zu werden, reicht neben einiger Zeit des Lebens mit einer Angststörung eigentlich ein Mindestmaß an Kreativität. Hier fehlt die Zeit, da taugt das Wetter nicht und beim nächsten Mal hat man eben einfach Besseres vor – und das alles sogar so überzeugend, dass man es am Ende selbst glaubt. Da funktioniert das Gehirn auf eine wirklich ganz besonders faszinierende Art und Weise.

Einer der häufigsten Auslöser, dass sich Menschen mit Angststörung bei sich selbst oder anderen rechtfertigen müssen, sind geplante Reisen. Beim Unterwegssein handelt es sich schließlich selbst bei Menschen ohne Angst oft um eine der größten Herausforderungen im Alltag. So eine Reise will gut geplant und vorbereitet sein und trotzdem warten unterwegs etliche Dinge, die schief laufen können. Und dann nimmt man ja durch das viele Geld auch erstmal eine Menge Risiko auf sich. Ihr seht: Gründe um gar nicht erst loszufahren gibt es genug…

Für viele Menschen mit Angststörung bringen geplante Reisen eine Menge Hürden. Die zu überwinden kann sich aber auch lohnen. Foto: Felix

Reisen mit Angststörung: Wie man den Stresslevel beim Unterwegssein verringert

Grund 1: Die An- und Abreise bedeutet doch eh nur Stunden im Stau, ewige Verspätung oder Gedränge am Gate. Danach braucht jeder normale Mensch direkt wieder Urlaub.

Das Nervigste am Reisen ist häufig das Unterwegssein, einfach weil man eventuelle Abwegigkeiten nie einplanen kann. Egal ob man nun mit dem Auto unterwegs ist, mit dem Zug, einer Fähre oder dem Flugzeug. Das treibt den Stresslevel selbst bei Menschen ohne Angststörung in die Höhe und taugt dennoch wie kaum ein anderer Grund als bestens geeignete Entschuldigung dafür, dass man eben doch zu Hause bleibt. Aber zu welchem Preis?

Stattdessen kann man sich hinterfragen, ob es eine Art des Reisens gibt, die einen von vornherein am wenigsten stresst. Je nach genauer Art der Angststörung ist das für manche die Anreise am Steuer, weil das Autofahren und Mitsingen der Lieblings-Playlist einen ablenkt, für andere wiederum die im Zug oder Flugzeug, weil man so herrlich aus dem Fenster schauen kann und zur Not auch ein Buch, Podcasts oder die offline verfügbare Lieblingsserie parat hat.

Welche Art zu reisen einen am wenigsten stresst muss jede:r für sich herausfinden. Foto: Sandra

Was mir zu Beginn immer wieder geholfen hat, war ein regelmäßiger Fortschrittscheck, ich also immer wusste, wann ich ein Fünftel, die Hälfte oder den allergrößten Teil der Reise geschafft hatte. Wer mit kürzeren Strecken beginnt und sich immer weiter voran arbeitet, gewinnt durch mehr Reiseerfahrung außerdem eine gewisse Routine, die den An- und Abreisestress nach und nach kleiner werden lässt, selbst wenn Staus, Verspätungen und Gedränge doch mal zuschlagen.

Meine Tipps fürs Reisen lernen für Menschen mit Angststörung: Neues zulassen, Bekanntes im Blick behalten

Grund 2: Aber ich weiß doch gar nicht, ob ich die Küche in der Urlaubsregion überhaupt mag – und überhaupt hat man unterwegs ja ständig mit fremden Menschen zu tun…

Gerade in meinem Fall, in dem sich die Angststörung die längste Zeit als siamesischer Zwilling einer ausgewachsenen Essstörung manifestiert hat, war immer eines der wichtigsten Reisehindernisse das Essen. Da ich mich über Jahre strikt geweigert hatte, außerhalb meiner eigenen vier Wände etwas zu mir zu nehmen, das über stilles Wasser oder Kräutertee hinausging, waren fremde Esskulturen, unbekannte Zutaten, Restaurantbesuche und das längere Unterwegssein zu Reisezielen mein größter Horror und über Jahre der beste Grund, ans Reisen am besten gar nicht erst zu denken. Doch auch für solche Probleme gibt es Ansätze, die auch etappenweise gut funktionieren.

Zunächst lässt sich das Fremde-Level ja gut nach und nach steigern, so dass die erste Hürde vielleicht sogar nur ein kurzer Snack am Marktstand um die Ecke oder Takeout vom neuen Afrikanischen Restaurant im Nachbarstadtteil mit der abgefahrenen Speisekarte bedeuten muss. Auch die Wahl der Urlaubsregion kann natürlich erstmal dafür sorgen, dass mit der Herausforderung die Angststörung zu überwinden gleich nicht auch noch eine fremde Küchenkultur einhergeht. Wer nach und nach immer mutiger wird, kann unterwegs dann immer noch nachjustieren.

Auch genießen kann man lernen. Unbekanntes und Ausgefallenes kann bei Reisen einer der größten Angstfaktoren sein. Foto: Sandra

Ähnliches gilt auch für den Umgang mit fremden Menschen. Wer von Anfang an gut plant, vielleicht lieber eine Ferienwohnung nimmt statt ein Hotel oder die Self-Check-In-Option anwählt, schafft sich im Urlaub ohne große Kontakte erstmal einen sicheren Raum zum akklimatisieren. Den Mut Kontakte zu knüpfen kann man sich dann aufsparen für die Momente, in denen vielleicht lebenslange Freundschaften daraus werden.

Trotz Angststörung in den Urlaub fahren: Die Gewöhnung ans Reisen kann auch ganz klein anfangen

Grund 3: Ach, eigentlich muss ich doch gar nicht wegfahren, wo es doch zu Hause so gemütlich ist. Und zu tun gibt’s ja auch Tausend Dinge. Wann sollte ich die denn erledigen außer im Urlaub?

Klar, zu Hause ist’s immer noch am Schönsten… Wäre ja auch gelacht, wenn man nach jahrelangem Pandemie-Alltag sich sein Nest nicht als Oase der Glückseligkeit eingerichtet hätte. Und die Lieblingseisdiele um die Ecke, das schöne Second-Hand-Geschäft, in das man es so selten schafft, und der hübsche Park unten am Fluss kommen schließlich auch außerhalb des Urlaubs immer wieder zu kurz. Bei solchen Gedanken kann es sich lohnen, sich seine Prioritäten bewusst zu machen, denn einen Urlaub lesend zu Hause auf der Couch zu verbringen und täglich andere tolle Picknickspots, Radelstrecken und potenzielle neue Lieblingsorte ausfindig zu machen, kann natürlich auch wunderschön sein.

Aber es ist eben auch eine hübsche Ausrede für all die Dinge, die man sich dank Angststörung bislang nicht zutraut und auch nicht ausgerechnet jetzt damit anfangen will. Kompromiss-Vorschlag gerade im Falle eines ersten “Urlaubs” seit Langem: die Tage vollpacken mit Quality-Time. Morgens Spaziergang im Wald, abends ins Autokino, dazwischen lesen im Park oder ein bisschen Hausarbeit. Wer mit einem “Urlaub zu Hause” in die Eingewöhnung ans Reisendenleben startet, kann schonmal üben den ganzen Tag auf Achse zu sein. Und sich dabei auch ab und an in “unbequeme” weil unbekannte und unkontrollierbare Situationen begeben. Die eigenen vier Wände sind ja nie allzu weit entfernt.

Wer reisen lernen will, muss klein anfangen. Das mag zwar frustrieren, dafür warten herrliche Tage beim Wandern ganz in der Nähe und Ausflüge in die schönsten Ecken der Nachbarstädte: Foto: Felix

Allein reisen mit Angststörung: Warum der Urlaub allein sogar auch mal ganz gut tun kann

Grund 4: Allein reisen? Schaffe ich niemals! Mal sehen, vielleicht hat die Freundin ja einfach im nächsten Urlaub Zeit, dann holen wir das eben nach.

Wer vor dem Reisen schon Angst hat, dem ist die Vorstellung allein unterwegs zu sein womöglich noch ein wenig unbequemer. Doch tatsächlich kann das Alleinreisen sogar ein wenig entspannter sein als ein Urlaub mit Partner:in, Freund:innen oder Familie. Das liegt letztlich einfach an der Tatsache, dass man bei Soloreisen seinen Takt ganz allein bestimmt und vor allem am Anfang seiner Laufbahn als Reisende:r umso besser kontrollieren kann, was einem beim Reisen mit Angststörung wirklich gut tut.

Wer allein unterwegs ist, kann sich auch mal einen Tag mit einem guten Buch in der Ferienwohnung verbuddeln oder einfach, um sich langsam ans draußen unterwegs sein zu gewöhnen, stundenlang in einen Strandkorb setzen und aufs Meer starren oder die kleinste Rundwanderung des Urlaubsorts erkunden. Zu tun und erleben gibt es unterwegs ja eigentlich genug, dass man keine anderen Menschen zur Unterhaltung braucht. Gute Begleiter sind dann eine Kamera und ein Smartphone für unterwegs und ein Laptop mit geladenen Serien oder Filmen für die Abendunterhaltung.

Wer allein reist kann sich voll auf sich und seine eigenen Bedürfnisse konzentrieren. Für mich war das vor vielen Jahren der perfekte Einstieg ins Reisendenleben. Foto: Felix

Mit Kurztrips oder Low-Budget-Reisen ins Reiseleben starten: Urlaub trotz Angststörung

Grund 5: Die Reise, die ich mir leisten will, ist frühestens in zehn Jahren angespart. Bis dahin hab ich ja noch Zeit meine Angst in den Griff zu bekommen.

So schön und einfach der Plan die Angststörung einfach auszusitzen auch klingt, die Wahrscheinlichkeit, dass er funktioniert, geht gegen Null. Wer seine Angst vorm Reisen überwinden will muss reisen. Dass es Träume gibt, für die man bereit ist zu sparen, ist dabei der beste Ansporn. Um diesen Traum nicht aus den Augen zu verlieren, kann es sich lohnen, sich ein wenig mit Low-Budget-Reisen zu beschäftigen und kleinere Kurztrips zu unternehmen, womöglich auch mit einer Art Checkliste von Dingen, die ganz bewusst zur Vorbereitung des Traumurlaubs genutzt werden.

Nehmen wir zum Beispiel einen meiner langjährigen Lieblingsträume, den Städtetrip nach New York, für den bislang wirklich leider immer das Geld gefehlt hat. Durch Brooklyn und Manhattan schlendern, mit der Fähre nach Long Island, tägliche Abstecher in die hipsten Bäckereien, Off-Broadway-Theater und als Highlight ein Billy-Joel-Konzert im Madison Square Garden. Auf die Checkliste zur Vorbereitung gehören einige Dinge, die auch prima Low Budget funktionieren. Vom Konzert beim Stadtfest, günstigen Theatertickets, der ein oder andere Flug sowie Städtetrips mit vielen längeren U-Bahn-Strecken und stundenlangem Sightseeing. Auf die Erfüllung des Traums warten muss man dann zwar, wie auch in meinem Fall, etwas länger. Die Erfahrungen auf dem Weg dahin sind aber selbst bereits unbezahlbar.

Man muss nicht immer gleich abheben, um an schöne Orte zu kommen. Doch vielleicht ist eine Gewöhnung ans Fliegen auch unumgehbar, um seine Träume zu verwirklichen. Foto: Sandra

Kennt ihr es auch, dass euch Ausreden erst von der Urlaubsvorfreude abhalten und dann unterwegs doch zerplatzen wie Seifenblasen? Was sind eure besten Tipps damit umzugehen? Verratet es mir in den Kommentaren.

Wenn ihr mehr über den Umgang mit Angststörungen lesen wollt, empfehle ich euch auch im Online-Magazin der Deutschen Angstselbsthilfe vorbeizuschauen. Auch hier habe ich erst kürzlich einen Text zum Thema Reisen mit Angststörung veröffentlicht.

Empfohlene Artikel

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert